60 Jahre: Eine märchenhafte Freundschaft zwischen SUO und SJB

Am Anfang wunderte man sich sehr übereinander

0 26.07.2024

Es war einmal…

So fangen Märchen an. Und so fängt auch die Geschichte an, die wie ein Märchen klingt. Es waren einmal ein Junge in Schweden und ein Professor in Deutschland. Der Junge hatte ein Augenproblem und der Professor war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der ihn davon befreien konnte. Der Junge mit dem Augenproblem kam zu ihm nach Essen, der Professor tat, was er gelernt hatte, und siehe da: der Junge konnte wieder sehen. Wie glücklich war der Junge und wie dankbar waren seine Eltern. So dankbar und voller Glück, dass sie beschlossen, dem Professor an seiner Klinik in Essen ein musikalisches Ständchen zu bringen. Der Professor war sehr gerührt, dankte herzlich für den Besuch und so wäre das Märchen eigentlich schon zu Ende. Der Professor und die Eltern des Jungen und auch der Junge selbst sind längst gestorben. Doch das Märchen geht weiter.

Von 1998 ein Bild der Schönebecker in Kåseberga. Das Bild von 2014 entstand in Sjöbo zum 50-jährigen Freundschaftsbesuch und zeigt 4 die von Anfang an dabei waren und bis heute befreundet sind: (von links  nach rechts) Jan Holmegard (verstorben), Detlef Neumann, Thomas Holmegard, Uno Anderson (langjähriger Vorsitzender des SUO, ich meine schon 1964). Von 2022 ist ein gemeinsames Konzert am Gästis in Sjobo und zuletzt ein Foto vom diesjährigen Treffen am Schloß.

Das Märchen konnte nur weitergehen, weil sich Menschen hüben wie drüben über die Zeichen der Zeit hinwegsetzten. 1964 – das war die Zeit des „Kalten Krieges“. Erst drei Jahre zuvor war die Mauer in Berlin errichtet worden und hatte nicht nur bei den Deutschen Angst vor einem neuen Weltkrieg ausgelöst. Die DDR und UdSSR schlossen eine Freundschaftsvertrag. Die USA traten in den Vietnamkrieg ein. 1964 – da bewegte sich Schweden zwischen Neutralität und Unabhängigkeit auf der einen und dem Bedürfnis nach sicherheitspolitischer Kooperation mit der NATO auf der anderen Seite. Ein Schwebezustand, der erst 2024 mit dem Beitritt Schwedens als 32. Mitglied der NATO beendet wurde.

Die Röcke wurden kürzer

1964 - das war die Zeit, in der viele Bundesbürger selbstzufrieden wie in einer Wohlstandsblase den neu gewonnenen Lebensstandard genossen. Fresswelle, Sexwelle, Reisewelle waren Schlagworte jener Zeit. Deutsche Intellektuelle übten heftige Kritik an der kollektiven Verdrängung der politischen Vergangenheit. Ostermärsche von Atomkraftgegnern. Junge Menschen begehrten gegen die ältere Generation auf. Eltern schauten verwundert auf Zöglinge, die sich die Haare wachsen ließen, die herkömmliche Kleiderordnung ignorierten und Mini-Röcke trugen, scheinbar unbekümmert mit sexuellen Tabus umgingen und jener, wie man damals schimpfte, „schrill-primitiven“ neuartigen Popmusik verfielen, die die Beatles, die Rolling Stones und andere Bands den Ohren der Altvorderen zumuteten. Wie passten Blasmusik und internationale Jugendbegegnung dazu?

Wie Miteinander gelebt werden kann, machten den Großen die „kleinen“ Menschen in Sjöbo und Borbeck vor. Verbunden durch die Kraft der Musik, gingen sie vorurteilsfrei miteinander um. Sie waren im Hinblick auf europäisches Bewusstsein und menschliches Miteinander ihrer Zeit und den Zeitgenossen weit voraus. Sie haben die politisch-ideologischen, räumlichen, emotionalen und mentalen Grenzverläufe jener Zeit ignoriert und eigene Linien von Mensch zu Mensch gezogen. So konnte ein dichtes und starkes Geflecht persönlicher Beziehungen von hoher Haltbarkeitsdauer entstehen.

Bild rechts im Text: Günther Eggert und Thore Holmegard beim Gruga-Konzert von 1979.

Orchesterfahren spielen wichtige Rolle

Orchesterfahrten spielten und spielen eine wichtige Rolle. Davon hat es in den 60 Jahren insgesamt 35 gegeben. 18-mal war das SUO zu Gast in Essen, 16-mal war das SJB in Sjöbo. Das heißt, dass man sich im Schnitt alle zwei Jahre in wechselnden personellen Konstellationen begegnete. Dabei sind viele Freundschaften entstanden, es gab enge Beziehungen – nur zu einer deutschen-schwedischen Ehe hat es bisher nicht gereicht. Ja, die Orchesterfahrten! In Sjöbo gehörten die Konzerte im Restaurant Bäckahästen in Ystad ebenso dazu wie die Badekonzerte im Freizeitpark Tosselilla Sommerland bei Tomelilla oder die Abstecher nach Kaseberga und Sandhammeren und das Sonnenbaden am Nybrostrand auf den Spuren von Kurt Wallander. Die Schönebecker nahmen für die schwedischen Standardangebote hochwertige Rache mit Besuchen von Baldeneysee und Villa Hügel. Immer aber ging es lebhaft und lustig zu. Der überbordenden Freundlichkeit der schwedischen Gasteltern und dem traditionellen Trinkspruch des Dirigenten Thore Holmegard war man hilflos ausgeliefert: Mîn skâl, dîn skâl, alla vackra flickor skâl. Mein Wohl, dein Wohl, aller schönen Frauen Wohl! Obwohl – die schwedischen Schnäpse waren nicht immer zum Wohlsein. Jene spezielle flüssige Landeswährung, die unterm Tisch zu einem Spezialkaffee gemixt wurde, von dessen Genuss man rasch einen in der (deutschen) Krone hatte. Überhaupt ging es in Sjöbo viel lockerer zu. Vieles war dort möglich, was zu Hause undenkbar gewesen wäre. Umgekehrt konnten die schwedischen Gäste manches nicht verstehen, zum Beispiel, warum bei den Schönebeckern damals keine Mädchen mitspielten.

Jungen sollten ordentlichen Haarschnitt tragen

Wie ungewohnt und anders alles vor sechzig Jahren gewesen ist, beweist ein Blick auf die beiden ersten Begegnungen 1964. Was wusste man denn voneinander! Den jungen Menschen aus der Kleinstadt in Südschweden war Deutschland, den jungen Deutschen war Schweden fremd. Beispielhaft sei hier Jan Holmegard zitiert: „Für uns aus einem kleinen Dorf in Schweden war es ein tolles Erlebnis, in eine große Stadt mit einer anderen Kultur zu kommen.“ Auf beiden Seiten war man darum bemüht, nur ja nicht unangenehm aufzufallen. Man wollte und sollte sein Land möglichst gut präsentieren. Darum gab es klare Verhaltensregeln. So stand im Ferienrundschreiben Nr. 3 vom 25. August 1964: „Eventuell Rasierzeug mitnehmen, auf keinen Fall Kartoffelsalat. Wir wollen in Schweden einen guten Eindruck hinterlassen, besonders deshalb, weil die schwedische Bevölkerung den Deutschen gegenüber sehr, sehr reserviert ist.“ Zwei Jahre später, vor der zweiten Reise nach Sjöbo, war erneut von Kartoffelsalat die Rede, ergänzt um den Hinweis an die Eltern, darauf zu achten, „dass die Jungen einen ordentlichen Haarschnitt tragen.“ Was den schwedischen Mädchen und Jungen an Verhaltensregeln mit auf den Weg nach Essen gegeben wurde, wissen wir nicht. Aber wer Gull Holmegard gekannt hat, kann sich denken, dass diese Vorgaben sehr deutsch gewesen sind.

Wie anders seinerzeit alles war, trat bei der Ankunft der schwedischen Gäste am 13. Juli 1964 zu Tage. Der Reisebus aus Schweden traf um 18:30 Uhr auf dem Borbecker Platz (Alter Markt) ein. Hunderte von Schaulustigen erwarteten gespannt die Ankunft der Gäste. Im Bericht der Borbecker Nachrichten (17.07.64) hieß es: „Zum ersten Male sehen sich Sjöboer und Schönebecker aus der Nähe. Bald ist das Eis geschmolzen, bald bahnt sich erste Freundschaft an. Beifall klingt auf, als Frau Gull Holmegard im Namen aller schwedischen Gäste erklärt, dieses Treffen werde gewiss zur Verständigung der Volker Europas und zur Freundschaft untereinander beitragen.“ Jan Holmegard erinnert sich ein wenig augenzwinkernd an den Empfang in Borbeck. Er sei so herzlich gewesen, dass man sich gleich in Borbeck, in die Schönebecker und in das deutsche Bier verliebt habe.

Es sind die wechselnden Protagonisten in Vorstand und Orchester gewesen, die dafür gesorgt haben, dass die Freundschaft Generationen von Vorständen und Orchesterzusammensetzungen überdauerte. Sie haben die Saat gelegt, die in den Folgejahren so prächtig aufgegangen ist. Gull Holmegard sei stellvertretend für alle genannt. Ihr hat Walter Wimmer, Herausgeber der Borbecker Nachrichten, einen würdigen Nachruf gewidmet: „Die Schönebecker aller Altersgruppen, die sie kennenlernen durften, werden ihr freundliches und offenes Wesen, ihre Liebenswürdigkeit und ihren Lebensmut nicht vergessen. Gull Holmegard hat das Leben vieler Menschen in Deutschland und Schweden reicher und glücklicher gemacht.“ (Borbecker Nachrichten v. 22.11.2001).

Freundschaft währt über Generationen

Es war und ist eine unvergleichliche, von Herzen kommende Freundschaft, weitergegeben von Generation zu Generation. Es waren Augen, die uns den Blick über die Grenzen hinweg geöffnet haben. Und es waren Menschen, die mit dem Herzen sehen konnten. So schauen wir dankbar auf die Menschen, die damals mitgeholfen haben, ein Märchen in Gang zu setzen, das bis heute andauert und dessen Ende, folgt man der Zuversicht von Rolf Nilsson, dem langjährigen Vorsitzenden des SUO, nicht abzusehen ist: „Was im Jahr 1964 begann und über Generationen gewachsen ist, kann nicht aufgehalten werden.“ Mit dieser Gewissheit kann das Märchen gerne weitergehen. Und im Gedenken an den Professor, den Jungen und seine Eltern, mit denen das Märchen begonnen hat, mag es ebenso märchenhaft enden: „Auch wenn sie längst gestorben sind, so leben sie doch weiter!

Kleines Bild rechts: Das Bild von 2014 entstand in Sjöbo zum 50-jährigen Freundschaftsbesuch und zeigt vier, die von Anfang an dabei waren und bis heute befreundet sind: (von links  nach rechts) Jan Holmegard (verstorben), Detlef Neumann, Thomas Holmegard, Uno Anderson (langjähriger Vorsitzender des SUO)

Bild unten: Das Foto entstand beim diesjährigen Treffen am Schloss.

Das Bild ganz ganz oben zeigt das Eintreffen der Schweden beim allerersten Besuch in Borbeck auf dem alten Markt 1964. So viele neugierige Zuschauer hatte niemand erwartet.

Zurück

Kommentare

Einen Kommentar schreiben

Was ist die Summe aus 3 und 8?